Samstag, 31. März 2012

Der unfreie Wille: ein neuer "Fels des Atheismus"?

Ist unser menschlicher Wille frei oder ist er es nicht? Genau dieses Problem soll im Folgenden – nicht erörtert werden. Mag sein, dass ich immer die falschen, klassischen wie modernen Abhandlungen gelesen und mich stets mit den falschen Leuten, darunter Philosophen und Theologen unterhalten habe. Doch wüsste ich keine andere verbreitete philosophische Behauptung, für welche die Argumente ihrer Befürworter derart schlecht und einfältig daher kommen wie für die des freien Willens.
Wesentlich gewinnbringender scheint mir, nach Konsequenzen der also hiermit vorausgesetzten Unfreiheit zu fragen. Sam Harris widmet sein jüngst erschienenes Buch Free Will genau diesem Thema. Während er allerdings in umfassenden gesellschaftlichen Kategorien denkt, will ich mich an dieser Stelle ausschließlich auf das Zusammenwirken von Willensunfreiheit und Atheismus konzentrieren. Dass dabei nicht der vollständige, Jahrtausende lange Diskurs um die Gesamtthematik berücksichtigt werden kann, bitte ich, mir nachzusehen.


Auf den ersten Blick könnte man meinen, mit dem unfreien Willen einen um Längen besseren Felsen des Atheismus parat zu haben als beispielsweise jene – aus ungläubiger Perspektive – unsäglich alberne Theodizee-Frage. Können wir nicht frei entscheiden, macht alle Religion schließlich keinen Sinn. Das ist erst einmal richtig. Ich möchte aber anhand dreier Punkte zeigen, weshalb wir aus diesem vermeintlichen Felsen lieber einen Kieselstein machen sollten.

1. Das "Unfreier-Wille-Argument" zerschmettert zwar jegliche Religion – nicht aber die Gottesfrage.

Indem auf die Willensunfreiheit verwiesen wird, sind alle religiösen Wahrheitsansprüche, die, ob es ihre Vertreter wollen oder nicht, irgendwann immer in individuellen Entscheidungen münden, im Handumdrehen in Stücke gerissen. Gerade das macht es so verführerisch.
Man begibt sich damit allerdings aus meiner Sicht auf genau das falsche Parkett. Religionen anhand interner Ungereimtheiten überführen und so zeigen zu wollen, was philosophisch gegen den Gehalt ihrer Lehren sprich, kann zwar Spaß machen. Es ist aber nicht halb so zielführend wie ihre Erscheinungsformen ganz einfach (natur-)wissenschaftlich zu erklären.
Außerdem bekommt man damit die Gottesfrage – die man sich mit einer Gegenargumentation zwangsläufig einhandelt – nicht vom Tisch. Bewegt man sich nur auf hiesigem Gebiet, dann muss man eingestehen: Es spricht nach diesem Muster auch nichts gegen einen oder mehrere externe Determinierer. Und dass die Schar der Gläubigen alle überirdischen Gedankenspiele sofort mit "Gott" betitelt, dürfte bekannt sein.
Zwar ist die Lehre der göttlichen Prädestination zum Heil heute glücklicherweise – oder besser gesagt: der Aufklärung sei Dank! – aus den meisten Köpfen verschwunden. Das verleiht dem Wert des unfreien Willens in der Diskussion wiederum ein klein wenig Aufwind. Kaum jemand würde noch das Bild eines Gottes verteidigen wollen, der nun mal eine handvoll Menschen von vornherein erwähle und der Rest verwerfe – womit dann aber eben für menschliche Entscheidungsfreiheit gestritten werden müsste, also gegen die Sachlage.
Doch wäge man selbst ab, ob man bereit ist, eine kohärente religionskritische Argumentation auf diesem Wege preiszugeben.

2. Das "Unfreier-Wille-Argument" delegitimiert, den eigenen Standpunkt zu vertreten.

Zeigt man Gesprächspartnern die Unschlüssigkeit ihrer Weltanschauungen auf – dann werden sie zumeist erst einmal sauer. Sie möchten sich irgendwie rächen, und dafür eignet sich allem voran ein Frontalangriff auf diejenige des Gegenübers.
Im vorliegenden Fall wäre ein solcher erfolgreich. Die zuvor aufgezeigte Sinnlosigkeit gewisser, insbesondere religiöser Überzeugungen geriete sofort in den Hintergrund. Stattdessen sieht man sich plötzlich selbst genötigt, die Besonderheit des eigenen, hier vordergründig atheistischen Auftretens zu rechtfertigen – und das wird vor dem Hintergrund des unfreien Willens nicht gelingen.
Im schlimmsten Falle wirft man noch ein verzweifeltes: "Ich kann ja nichts dafür, dass für meine Ansichten einstehe!" in die Runde – und macht damit jeglichen Nutzen des Gesprächs zunichte. Das bringt mich zu meinem letzten Punkt.

3. Das "Unfreier-Wille-Argument" würgt gewinnbringende Auseinandersetzungen ab.

In gewisser Hinsicht kann der unfreie Wille doch wie ein Fels sein: Er kann Streitgespräche unter sich beerdigen wie ein Grabstein.
Einmal vorgebracht, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit aus. "Worüber diskutieren wir dann überhaupt noch?", werden bisherige Verfechter der Willensfreiheit trotzig von sich geben – wie überzeugt vom Gegenteil sie denn auch letztlich seien mögen. Sicher trägt man argumentativ den Sieg davon, einen Pyrrhussieg allerdings. Nicht nur, dass das abrupte Ende den bisherigen Gesprächsverlauf mehr oder weniger ausradiert. Erst recht wird dadurch einem tieferen Eingehen aufeinander, einem Kennenlernen der Denkweisen und somit schlicht und ergreifend einem Lernen voneinander ein gewaltiger Riegel vorgeschoben.

Es mag seltsam erscheinen, dass ich hier den unfreien Willen verfechte und zugleich über einen planvollen Umgang damit ringe. Dafür möchte ich eine ganz simple Erklärung anführen: Harald Stücker schreibt in seiner Rezension des Harris-Buchs im Sinne des Autors, wir dürften nicht "den Glauben an einen freien Willen stärken, auch wenn wir wissen, dass er nur eine Illusion ist." Ich hingegen behaupte: Wir können gar nicht anders.
Um einmal rein von mir selbst auszugehen: So unermesslich groß meine Überzeugung ist, an meinem Denken und Handeln sei kein Fetzen Freiheit – ich kriege das nicht konsequent in meinen Kopf. Aber ich zerbreche auch nicht daran. Vielmehr mache ich mir im Wesentlichen überhaupt keine Gedanken darüber. Ganz ehrlich: Wer tut das schon?
Daher erdreiste ich mich – ohne empirische Untersuchung –, folgende These aufzustellen: Wir können die Einbildung eines freien Willens im praktischen Alltag nicht überwinden.

Vielleicht lässt es sich schließlich so auf den Punkt bringen: "Freiheit" und ebenso "Unfreiheit" sind zu sehr philosophische Kategorien, um als Stütze fruchtbarer, rationaler Auseinandersetzungen zu dienen. Das gilt auch und gerade dann, wenn es darum geht, eine solide atheistische Position aufzubauen.
Das soll aber nicht heißen, man dürfe den Kieselstein "unfreier Wille" nicht in der Hosentasche mit sich herum tragen – in der ruhigen Gewissheit, ihn theoretisch jederzeit werfen zu können.

7 Kommentare:

  1. Sam Harris does feel that free will is mostly an illusion. I believe we can make choices, but seldom freely. In my (free) ebook on comparative mysticism, "the greatest achievement in life," is a chapter called "Outside the box." Here are three paragraphs from it:

    What if you had to make all your decisions about living while detained in a jail cell? The cells may be open for brief periods each day, but the prisoners are still surrounded by walls. There are also walls around cells of everyday life. We are restricted by our ability to control our emotions, mind and body. Even with full command of our “self,” we must live within the restraints of Nature and society. Freedom is relative.

    “Free will” is really quite limited, despite belief that we control ourselves and our lives. We think we have endless choices...until we try to make them. Each decision must not only be based on what we “want to do,” but also on our own capabilities and what is expected of us. Nature and society imprison us, whether we like it or not. The key to release is mystical realization. All in One and One in All, the divine unity, opens the gate between a universal consciousness and most people’s constrained awareness.

    Outer walls are the boxes of Nature and of society. Inclement weather, lack of sunlight, gravity, and/or other natural phenomena may restrain our movements. Our own natural aptitudes, practiced talents and learned skills are always lacking in some areas. Human nature is controlled mostly by society. What we believe that other people expect of us greatly influences how we feel, think and act. Considering the reactions of our family, friends, business associates, community, and/or nation determines much of what we do. Those “laws” of Nature and society govern our lives, usually more so than we wish. Mystical awareness can allow us to obey divine law here and now.

    Sam Harris has written positively on mysticism and said “I see nothing irrational about seeking the states of mind that lie at the core of many religions. Compassion, awe, devotion and feelings of oneness are surely among the most valuable experiences a person can have.” Harris' personal background reflects his own search toward that goal.

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  2. The question is as follows: Are the choices you make (whether they are seldom freely or not) really free ? For not leaving the metaphor you mentioned, is the prisoner able to make free choices within his resctricted area/imprisonment at all ?

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  3. It would seem that causal determinism and free will are incompatible. Transcending the self, as mystics are prone to do, would see that both are true to a greater or lesser extent. It depends upon your perspective.

    To quote Rainer Maria Rilke, “Extensive as the ‘external’ world is it hardly bears comparison with the depth-dimensions of our inner being, which does not need even the spaciousness of the universe to be, in itself, almost unlimited. It seems to me, more and more, as though our ordinary consciousness inhabits the apex of a pyramid whose base in us...broadens out to such an extent that the farther we are able to let ourselves down into it, the more completely do we appear to be included in the realities of the earthly and, in the widest sense worldly [universal] existence, which are not dependent on time or space.”

    Relating that to the metaphor, there is freedom within even when there is not freedom without (in poetic usage). If we are totally without freedom, why are we having this (or any) discussion about it?

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  4. I can hardly see how transcending yourself, feeling the state of oneness is capable of answering the question whether or not your will is free or causal determined.

    In the end the free will argument always pops up when one is forced to make a decision.

    While experiencing e.g. meditation you don't make any decision, you just experience it and let yourself go.

    We are not totally without freedom. Realizing that everybody is (more or less) free to do what he/she wants but not free to want what he /she wants.

    But I guess there are plenty of philosophical (pseudo?)-explanations.

    Free will needs a subject. This me or I is showed to be a model constructed by our brain. It's probably not the "I" we long thought of it were. When there is no real self how can there be free will anyway ? It would be an illusion formed by an illusion.

    and then my head explodes ;-)

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  5. In deep meditation we have freedom from the sense of "I, me" and "my," from attachments to subject and object. We accept what is in its absolute freedom from causal determination as defined by science.

    As you probably know, dark matter is 25% and dark energy about 75% of the critical density of the Universe. Only 5% is visible so science cannot speak to the other 95% except in unproven theory and mathematical projections. How can we then no the true cause of our actions?

    Sorry, I have departed quite a bit from your original review. You might like to read a little of what Sam Harris said about mysticism, beyond the quote in my original reply: "Rational Mysticism" by Sam Harris atr http://www.secularhumanism.org/index.php?page=harris_25_6&section=library

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  6. How can we then know the true cause...

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