Donnerstag, 5. April 2012

Anne auf Sinnsuche

Nicht zu glauben! Es laufen auch noch abendliche Fernseh-Diskussionsrunden, die sich mit anderen oberflächlichen Themen als Ungerechtigkeit, Ungerechtigkeit oder den ungerechten Spritpreisen beschäftigen. Anne Will nahm am vergangenen Mittwoch die Kirche aufs Korn.

Es gab dann doch noch einiges zum Schmunzeln. So entgegnete beispielsweise Star-Apologet Matthias Matussek Dauertalker Heiner Geißler, nachdem der sich zum Chefexegeten des Neuen Testaments und hinterher gleich noch für sündenrein erklärt hatte: "Sind sind ja auch der Stellvertreter Gottes auf Erden."

Inhaltlich war allerdings mit dem anfänglichen Einspieler zur Runde: Alle auf Sinnsuche – hat die Kirche noch Antworten? bereits der Höhepunkt erreicht: "Der Markt für die Sinnsuche boomt." Statt aber das Prinzip Sinnsuche einmal kritisch zu beleuchten, wurden erwartungsgemäß die üblichen Stammtischparolen für und wider die Kirche hin- und hergeworfen. Die einen beriefen sich auf Dogmen, die anderen auf Floskeln.

Das Gespräch bestand im Wesentlichen aus den 08/15-Lebensgeschichten der Talkgäste. Man erfuhr z.B., dass Arnulf Bahring gelegentlich Ruhe braucht und kleinere Eheprobleme hat. Schwester Katharina ist aus der Bankenbranche ins Kloster gewechselt. Aufgrund einer Sinnkrise – nein, wie überraschend! Dass Matussek seine Ansicht, die katholische Kirche sei das Größte, vor Ausstrahlung der Sendung nicht grundlegend revidieren würde, war ebenfalls zu erwarten. Zwar wäre u.a. seine Angabe, der Religionsunterricht würde in Deutschland abgeschafft, aus säkularer Sicht wünschenswert. Doch fällt sie eher unter die inhaltliche Makulatur der Debatte. Geißler hatte wie immer einer bescheidene Meinung, die er energisch vertrat. Im Übrigen ist der ehemalige Bundesminister im Besitz der reinen, unverfälschten Botschaft Jesu Christi – falls jemand Interesse haben sollte: Unter heiner_geissler@t-online.de müsste er erreichbar sein. Am besten in der Anfrage die Stichworte "Talkshow" und "Einladung" geschickt unterbringen, das dürfte für die notwendige Aufmerksamkeit sorgen.
Die Fremdschäm-Attacke des Abends lieferte Sat.1-Nachmittags-Psychologin Angelika Kallwass. In ihrer ersten Stellungnahme fiel ihr ein super Vergleich für die Vorstellung von einem allmächtigen Gott ein: Hitler. Bravo, Frau Kallwass, Sie haben offiziell den Vogel abgeschossen. Noch unglaublicher, dass Matussek tatsächlich auch noch darauf reagierte.
Heimlicher Star der Sendung war Autor Andreas Altmann. Nicht nur, weil er es fertig brachte, nicht selbst auf sein Buch Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend hinzuweisen. Vielmehr drosch er erbarmungslos, aber stets charmant auf die heuchlerischen, menschenverachtenden Seiten der Kirche ein, die er am eigenen Leib erfahren musste. Da mochte Matussek noch so viel "heiliges Spektakel" anbringen und "christliche Nächstenliebe!!" schreien – gegen das persönliche Erleben Altmanns konnte nichts ankommen. Vor konkreten menschlichen Schicksalen schwindet eben die Bedeutung von "Religion", "Christentum", "Kirche" und all solchen Abstraktionen. Leider beschränkte man sich in der Runde auf allgemeines Mitleid mit Herrn Altmann.

Moderatorin Anne Will ist kein erheblicher Vorwurf zu machen, obgleich auch sie immerzu auf der "Institution Kirche" herumritt. Sie stellte wichtige Fragen wie "Lässt sich der Freiheitsgedanke mit Unterwerfung verbinden, in welcher Form auch immer?" oder, bezogen auf das Gelübde der Ordensschwester: "Woher wissen Sie, dass das ihr ganzes Leben lang der richtige Weg für Sie ist?" Nur nützt das reichlich wenig, wenn die Antworten darauf nichts hergeben: Ob in der Behauptung, Unterwerfung sei erst die Voraussetzung für Freiheit – wie bitte, Matussek? – oder sie wie im zweiten Beispiel gar nicht erfolgen.

Stellen, an denen es hätte spannend werden können, wurden professionell übergangen. Wenn z.B. Kallwass – als wahrlich hervorragende atheistische Vertreterin – gesteht: "Ich bin offen für Magie." Oder, wenn der greise Bahring behauptet: "Dass der Mensch Falsches tut, ist doch selbstverständlich!" Nein! Handlungen und Gesinnungen als "falsch" zu beurteilen, ist eben nicht selbstverständlich! Für die ARD-Gesprächsrunde hingegen anscheinend schon.

Zwar mochte Bahring nicht ganz Unrecht haben, als er zu Beginn dem Menschen eine "allgemeine Sehnsucht nach einem Übersteigenen des eigenen, kleinen Ichs" zusprach. Der Irrsinn beginnt allerdings, wenn aufgrund dieses Angelangen-Wollens ein Angelangen-Können vorausgesetzt und zur Diskussionsgrundlage erklärt wird.
Über den (Un-)Sinn von Sinnsuche zu streiten, wäre sicher ein weitaus interessanter Ansatz, als zum x-ten Mal Apologeten und Gegner der Kirche vom Stammtisch ins Fernsehen zu holen. Wer dann allerdings eingeladen werden sollte, bleibt noch offen.

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