Sonntag, 8. Juli 2012

"Das steht doch im Koran!"

Foto: Martin Hauswald
Am vergangenen Mittwoch setzte Prof. Dr. Tilman Seidensticker, Islamwissenschaftler der Uni Jena, einen eindrucksvollen Schlusspunkt unter unsere öffentlichen Veranstaltungen in diesem Semester. Anschaulich und wohl strukturiert warf er aus islamwissenschaftlicher Perspektive einen Blick auf Möglichkeiten und Defizite der Kritik am Islam.

Auch der letzte Vortrag des Semesters war gut besucht. Die meisten der über 30 Gäste kamen diesmal aus der Orientalistik. Nicht nur sie dürften sich ein wenig gewundert haben, dass Seidensticker seine Ausführungen zunächst mit dem "permanent überforderten Islamwissenschaftler" begann.

Doch führte dieser Einstieg über die Fachgeschichte sinnvoll zum eigentlichen Thema des Abends hin: Zwar sei es unbestreitbar die eigentliche Aufgabe eines Wissenschaftlers, zu beschreiben und zu erklären. Doch führe gerade das in der Islamwissenschaft häufig dazu, dass um "unbequeme" Themen, bei denen es etwas zu kritisieren gäbe, ein Bogen gemacht werde oder sie gar beschönigt werden.

Seidensticker machte an diesem Abend keinen Bogen, sondern unterschied zwischen angebrachter und unangebrachter Kritik.

Letztere weise nach seiner Erfahrung Defizite in drei wesentlichen Kategorien auf.
Auf der Faktenebene begegne ihm am häufigsten die Behauptung "X steht doch im Koran!" Dabei kann es sein, dass a) das wie im Falle der Beschneidung schlicht nicht stimmt, b) wie im Falle des Umgangs mit anderen Religionen nebenher auch noch zahlreiche, zum Teil widersprüchliche andere Aussagen zu finden sind oder c) es wie im Falle des Hand-Abhackens für Diebstahl zwar richtig ist, jedoch in der Realität kaum praktiziert wird.
Ähnlich sieht es mit der Unterstellung, X stehe "in der Scharia" aus. Zum einen wurde diese nämlich bisher nicht verbindlich kodifiziert – "die Scharia" gibt es also tatsächlich überhaupt nicht. Zum anderen werden auch weitgehend einvernehmliche Ansichten der islamischen Jurisprudenz in einigen Fällen, z.B. der Steinigung von Ehebrechern, mehrheitlich nicht praktisch angewandt.
Eine zweite Kategorie bilde die Verallgemeinerung. Ursachen sieht Seidensticker hier erstens auf Seiten der Medien, die verständlicherweise nicht umher kämen, über Katastrophen statt über friedlichen Alltag zu berichten. Aber auch die Islamwissenschaft müsse sich das Missverständnis, "Islam" sei im Wesentlichen, was im Koran stünde, zu gewissen Teilen auf die eigene Fahne schreiben.
Ein letztes Hauptproblem seien die verzerrten Maßstäbe, die an die islamische Welt angelegt würden. "Terroristen zählen anders", so brachte der Islamwissenschaftler es auf den Punkt, wenn beispielsweise angesichts der Opfer von 9/11 die der Invasionen in islamische Länder völlig aus dem Blick gerieten.

Man kann bis hierhin zusammenfassen: Der grundlegender Fehler der Islamkritik ist es, den Islam zu kritisieren. In diesem Sinne rät Seidensticker, Kritik auf Strömungen und Personen zu konzentrieren.
Denn Anlass und Notwendigkeit dazu gebe es freilich genug. Punkte wie Meinungs- und Religionsfreiheit oder Frauenrechte seien schlichtweg indiskutabel. Zum Ziel führe dies jedoch nur, wenn sich Engagement an konkreten Menschen orientiert und nicht einem theoretischen Islam "alles in die Schuhe schieben" will.
Unterscheiden müsse man überdies dahingehend, ob sich Kritik gegen Gruppierungen in der Heimat oder Situationen im Ausland richte. Während er zwar betonte, dass zweiteres grundsätzlich schwieriger sei, lobte er auch den für ihn durchaus überraschenden Erfolg Rüdiger Nehbergs gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien in islamischen Regionen.

Am Ende seines Vortrags ging Seidensticker auf die Studie "Muslime in Deutschland" des BMI ein, wonach u.a. rund 5% der befragten Muslime hierzulande angaben, sie hielten Gewalt zur Durchsetzung des Islams für gerechtfertigt.

Genau diese 5% seien es also, die im Zentrum der Kritik und gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit stehen müssten. Im Zuge der anschließenden Diskussion betonte Seidensticker jedoch, er sei kein "Sozialarbeiter". Diese sowie Kriminologen seien hier vor allem gefordert. Er selbst könne nur die grundlegende Aufklärungsarbeit leisten.

Neben den zu erwartenden Abschweifungen im Gespräch nach dem Vortrag ging er noch kurz auf Stimmen wie solche des zur Zeit bedeutendsten deutschen Anti-Islam-Portals, Politically Incorrect, ein. Hierin sieht er vor allem innenpolitische Stimmungsmache, die an den Kritisierten selbst, den Muslimen, völlig vorbeigehe. Ihm fiele keine vernünftige Möglichkeit ein, mit solch mitunter feindseligen Gesinnungen fruchtbar umzugehen.

Unsere persönliche Aufgabe als Ergebnis dieses Abends heißt daher schließlich erneut: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Die entscheidende Herausforderung für uns besteht darin, zu einem sachgemäßen Bild islamischer Lebenswirklichkeit zu gelangen. Dafür müssen wir in dem Wust zwischen Verteufelungen und Beschönigungen kritisch um angemessene Informationen ringen.
Unser Gegenüber ist nicht der Islam – sondern das sind Muslime. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.

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